Offener Brief an die Ratsfraktionen der SPD und Bündnis90 – Die Grünen in Bochum vom 12.11.2020

 Herzlichen Glückwunsch Ihren beiden Fraktionen, dass Sie als Gewinner aus der diesjährigen Kommunalwahl hervorgegangen sind, wenn sich auch die Gewichtung innerhalb der Koalition deutlich verschoben hat. Als Bürgerinitiative „Gerthe West – So nicht!“ möchten wir gerne den Koalitionsvertrag hinsichtlich der Themen „Strukturentwicklung und Planung“, „Klima, Umwelt und Natur“, „Wohnen und Quartiere“ sowie „Bürgerbeteiligung“ kommentieren.

Strukturentwicklung und Planung

„Aber auch die Stadtteilzentren müssen weiterhin gestärkt werden.“

Bereits in den Jahren 2016/2017 wurde in einem aufwändigen Bürgerbeteiligungsverfahren ein Handlungsleitfaden für das Zentrum von Gerthe entwickelt. Leider wurde bislang kaum eine Idee des Leitfadens verwirklicht. Nun wird den Bürgerinnen und Bürgern wieder versprochen, dass das Zentrum von Gerthe im Rahmen des Neubaugebiets Gerthe West gestärkt wird (siehe HP der Stadt Bochum zu Gerthe West). Gleichzeitig wurde in der Auftaktwerkstatt zu Gerthe West bestätigt, dass keinerlei finanzielle Mittel für das Gerther Zentrum bereitstehen. Es ist zu befürchten, dass mit der Planung zu Gerthe West ein sogenannter Donut-Effekt entsteht. Dies bedeutet, dass durch die Entstehung von Neubauten im Umfeld des Zentrums, dieses noch stärker verödet.

„Grund und Boden sind nicht beliebig vermehrbar. Die Koalition hat das Bestreben nach einer nachhaltigen Bodenpolitik und einem schonenden Umgang mit Flächen für alle Generationen, alle Lebensanlässe und alle Wohnbedürfnisse. Regelinstrument dafür ist die Vorrangprüfung für Erbbaurechte.“

Neben diversen anderen Studien bescheinigen die aktuellen Veröffentlichungen des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW und Wüstpartner, dass die Stadt Bochum mit ihrer Neubautätigkeit ca. 120% des Solls erfüllt. Dies bedeutet, dass unnötig Grün- und Freiflächen mit Baumbeständen und Ackerböden versiegelt und damit unwiederbringlich vernichtet werden. So sieht ein schonender generationenübergreifender Umgang mit der wertvollen Ressource Boden sicher nicht aus. Bochum liegt bereits heute an neunter Stelle der meist versiegelten Städte bundesweit.

„Bäume, die wegen eines Bauprojekts nicht erhalten werden können, sind erst in der letzten Fällperiode vor dem tatsächlichen Baubeginn zu fällen. Es soll geprüft werden, ob eine frühzeitige Fällung von Bäumen sanktioniert werden kann.“

Eine nachhaltige Bodenpolitik fördert die Umsetzung von Neubautätigkeiten auf bereits versiegelten Flächen und im qualitativen Wohnungsbestand. Sinnhaft erscheint, die Erstellung von Wohnraum in die Stadt- und Stadtteilzentren zu verlagern. So wird die Fällung von Bäumen durch Bautätigkeiten erfolgreich verhindert.

Klima, Umwelt und Natur

„Das vereinbarte 1,5-Grad-Ziel der Vereinten Nationen und der im Rat ausgerufene Klimanotstand bilden den Handlungsrahmen für rot-grünen Klimaschutz in Bochum.“

Zum Erreichen des Klimaziels muss der Schutz des Altbaumbestandes absoluten Vorrang haben.

Auch die Erstellung von Neubauten erzeugt, im Vergleich zur Anpassung im Bestand, eine deutlich höhere „graue Energie“.

„Grünzüge, Landschaftsschutz- und Naturschutzgebiete sowie Biotopverbundflächen werden grundsätzlich von der Bebauung freigehalten.“

Der größte Teil der Planungsfläche Gerthe West wurde bereits durch den Umweltbericht im Rahmen der Planung der Westumgehung als Biotopverbundfläche beschrieben. Nach > 10 Jahren hat sich diese Fläche in ihrer ökologischen Wertigkeit deutlich positiv weiterentwickelt und darf somit nach Koalitionsvertrag nicht bebaut werden. Auch die Wertigkeit der wertvollen Lössböden im temporären Landschaftsschutzgebiet darf nicht einer Bebauungsplanung zum Opfer fallen. Es scheint, dass die Stadt Bochum den Schutzstatus für wertvolle Flächen wie Landschaftsschutzgebiete willkürlich nach den eigenen Plänen für Bebauung definiert, denn im direkten Anschluss an das temporäre Landschaftsschutzgebiet liegt ein gleichwertiges Gelände mit unbefristetem Landschaftsschutz.

„SPD und Grüne verständigen sich auf eine neue Baumschutzsatzung mit dem Ziel, die Anzahl der zu fällenden Bäume zu verringern und einen höheren Werteausgleich für alle zu fällenden Bäume festzulegen.“

Wirft man einen Blick in das Wohnbauflächenprogramm der Stadt Bochum zeigt sich, dass sich die zu bebauenden Flächen zum größten Teil auf Grünflächen, viele mit Baumbestand, und Freiflächen befinden. Dies ist mit dem Koalitionsvertrag nicht vereinbar.

„In den kommenden Jahren wollen wir eine großzügige neue Waldfläche in Bochum anlegen.“

Da Bochum nur einen vergleichsweise geringen Waldbestand aufweist, ist es eine schöne und begrüßenswerte Idee, eine neue Waldfläche anzulegen. Diese kann allerdings nicht den Verlust von Altbaumbeständen in den jeweiligen Quartieren kompensieren. Ein heute gepflanzter Baum in einem neuen Wald braucht 30 Jahre, um die Funktion eines gerodeten Altbaums zu übernehmen. Bochum benötigt neuen Wald und den Erhalt der Bestandsbäume.

Wohnen und Quartiere

„Neue Wohnungsbauvorhaben sind in erster Linie auf bereits vorgenutzten Flächen umzusetzen.“   

Wir begrüßen diese Forderung und regen an, die Erstellung und Sanierung von Wohnraum im Bestand zu fördern und somit dem bestehenden und drohenden Leerstand im Gerther Zentrum entgegenzuwirken.

„Eine Neuinanspruchnahme von unversiegelten Flächen ist auf ein Minimum zu beschränken, um so auch den Schutz von gewachsenen wertvollen Böden Rechnung zu tragen.“

Die Schaffung und Sanierung von Wohnraum im Bestand verhindert die Versiegelung und den Flächenfraß.

„Die Evaluation des Handlungskonzepts Wohnen ist schnellstmöglich anzugehen, so dass Ergebnisse spätestens 2022 vorliegen und eine Neuformulierung des gesamtstädtischen Ausbauziels unter Berücksichtigung aktueller Studien zur Bevölkerungsentwicklung und zum Wohnungsbau vorgenommen werden kann.“

Die Koalition hat wohl erkannt, dass das Handlungskonzept Wohnen mit dem Wohnbauflächenprogramm dringend einer Überprüfung bedarf. Es ist nicht akzeptabel, dass bis zum Ergebnis der Evaluation weiterhin Flächen im großen Ausmaß überplant und versiegelt werden. Die Überprüfung des Handlungskonzeptes muss sofort erfolgen, auch bestehende Planungen miteinschließen und bis zu einem Ergebnis der Überprüfung sollten bestehende Planungen ausgesetzt werden.

Bürgerbeteiligung

„Eine Beteiligungskultur funktioniert dann, wenn sich möglichst viele Menschen mit ihren Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten einbringen. Wir bauen deshalb die Bürgerbeteiligung aus und suchen den Meinungsaustausch mit allen Bürgerinnen und Bürgern. Wir wollen dabei viele Menschen erreichen, um ein möglichst repräsentatives Meinungsbild aus Pro und Contra zu erfahren, das unsere Entscheidungsgrundlagen stärkt.“

Auch wir begrüßen eine Beteiligung der Bürgerschaft in den Stadtteilen bei Planungen, die das Lebensumfeld im Quartier berühren. Eine ernstgemeinte Bürgerbeteiligung setzt allerdings zu einem frühen Zeitpunkt ein und lässt auch Fragestellungen zum „ob“ eines Vorhabens zu.

Der vorliegende Koalitionsvertrag kann nur zu der Entscheidung führen, die Planungen zu Gerthe-West zurückzustellen, bis die Evaluationsergebnisse zum Handlungskonzept Wohnen vorliegen.

Was dieser Vertrag vermissen lässt ist eine Berücksichtigung der gesellschaftlichen Veränderungen hinsichtlich Wohnen, Arbeiten und Einkaufen. Die aktuelle Pandemie beschleunigt diese Prozesse enorm und wird unsere Stadt massiv verändern. Der Wegfall von Handels-, Büro- und Hotelflächen wird zu einem empfindlichen Leerstand und zur Verödung der Innenstadt führen. Hier ist im Sinne —von moderner Stadtplanung kreative und flexible Planung gefragt, um die Potenziale dieser Veränderung zu nutzen. Statt weiterer Einkaufszentren und Bürokomplexen benötigt unsere Innenstadt Wohnflächen, Spielplätze und Ruhezonen mit attraktiver Aufenthaltsqualität. Hier macht die Schaffung von neuem Wohnraum Sinn!

Wir wünschen der Koalition eine glückliche Hand und viel Erfolg bei der Umsetzung, sodass den Worten auch die Taten folgen.

Glück auf!

Bürgerinitiative Gerthe West – So nicht!

Sabine Schoening                                                           Dr. Gerhard Henke

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